Er vermisst seinen Vater jeden Tag
Mit "19.521 Schritte. Vom Glück der unerwarteten Begegnung" veröffentlicht Guido Maria Kretschmer, 58, am 18. Oktober sein bisher wohl persönlichstes Buch. Ein Buch, das er seinen Eltern gewidmet hat. "Ich habe es geschrieben, als mein Vater noch gelebt hat", erklärt der beliebte Modedesigner im Interview mit spot on news. "Es hat ihm so gut gefallen." Kretschmers Vater verstarb im August im Alter von 87 Jahren. Seine Mutter leidet an Demenz, wie der Designer im Buch erstmals zur Sprache bringt.
Als Rahmenhandlung dient ein Spätsommertag in Berlin, an dem Kretschmer unterschiedlichen Menschen begegnet, die ihn zum Teil tief in ihre Seele blicken lassen. "Sobald ich auf Menschen treffe, erzählen sie mir viele, viele private Geschichten. Das ist ein Teil von mir und meinem Alltag", erklärt der Designer und verrät, dass ohne seine große Liebe Frank Mutters, 68, das Buch wahrscheinlich nicht zustande gekommen wäre.
„Dieser Tag in Berlin war ein Geschenk, eines, das nur ich so erleben konnte, weil es mein Leben ist und weil Menschen mich nicht als einen Fremden wahrnehmen, sondern mir vertrauen“, schreiben Sie in Ihrem Buch. Woher kommt dieses Vertrauen, das Ihnen wildfremde Menschen entgegenbringen?
Guido Maria Kretschmer: Zum einen ist es, glaube ich, in meiner DNA angelegt, dass ich offen bin für Menschen und Situationen, nicht unbedingt bewerte und es nehme, wie es kommt. Außerdem habe ich großes Interesse an Menschen und das spüren sie natürlich auch. Viele haben durch meine mediale Präsenz das Gefühl, mich zu erkennen, sodass es ihnen vielleicht leichter fällt, mich anzusprechen und die Barriere, die normalerweise zwischen fremden Menschen steht, zu durchbrechen. Bei mir ist jeder gut aufgehoben und oftmals werden Fremde schnell zu Freunden.
Welche Ihrer zahlreichen, zum Teil auch skurrilen Begegnungen, ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben?
Kretschmer: Eigentlich alle, die ich an diesem Tag erlebt habe. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir aber vor allem das große Vertrauen der Menschen, die mir begegnet sind und diese extreme menschliche Nähe und Freundlichkeit, die ich gespürt habe.
Als Sie Ihrem Mann Frank abends von diesem Tag in Berlin erzählen, ermunterte er Sie sofort, darüber zu schreiben. War das die Geburtsstunde des Buchs?
Kretschmer: Frank hat gesagt: Du bist mein Menschenfänger und das ist eine so schöne Geschichte, die du nicht vergessen darfst und unbedingt aufschreiben musst. Somit war es irgendwie schon die Geburtsstunde, da ich ursprünglich ja gar nicht geplant hatte, ein Buch darüber zu schreiben.
„Er ist mein Himmel auf Erden“, schreiben Sie unter anderem über Frank. Sie gelten seit über 38 Jahren als das perfekte Paar, wie schaffen Sie es, Ihre Liebe Tag für Tag am Leben zu halten?
Kretschmer: Ich glaube, das Geheimnis ist, dass ich immer ein bisschen mehr Fan von ihm bin als von mir. Das ist eine gute Grundvoraussetzung und würde ich auch vielen Leuten so empfehlen – dass man sich ein bisschen mehr begeistert für das, was das Gegenüber macht. Dadurch ist man irgendwie frei und wächst auf eine gute Art zusammen.
Im Vergleich zu Ihren anderen Büchern geben Sie in „19.521 Schritte“ auch viel Persönliches von sich preis. Ist Ihnen das schwergefallen?
Kretschmer: Da ich generell ein relativ transparenter Mensch bin, auch in der Öffentlichkeit, ist es mir nicht wirklich schwergefallen und hat irgendwie auch Sinn gemacht, diese Geschichte so persönlich zu erzählen. Ich habe schon beim Schreiben der ersten Seite sehr schnell gemerkt, dass es nur so geht. Das Private und Persönliche lässt sich ja nicht von meinem Leben trennen, das wäre dann auch nicht authentisch. Ich habe alles so geschrieben, wie es war und hatte nicht eine Sekunde das Gefühl, dass ich irgendetwas preisgebe, was nicht menschlich genug wäre, es zu teilen. Das Buch zeigt deshalb auch sehr gut, wer ich bin und woher ich komme.
Ihr Buch widmen Sie Ihren Eltern. Ihr Vater ist im August leider verstorben, haben Sie mit ihm über das Buch geredet?
Kretschmer: Oh ja, ich habe ihm vorher das Buch vorgelesen. Es war sehr schön, weil er währenddessen meine Hand gestreichelt hat und es ihm so gut gefallen hat. Ich habe das Buch geschrieben, als er noch gelebt hat, er ist ein großer Teil dessen und ich bin sehr dankbar, dass ich ihn noch daran teilhaben lassen konnte.
Sie schildern unter anderem die typischen Telefonate mit Ihrem Vater, die stets gleich abliefen. Fällt es Ihnen schwer, diese Zeilen heute zu lesen?
Kretschmer: Es fällt mir sehr schwer, weil ich zu meinem Vater ein perfektes Telefon-Verhältnis hatte. Es fällt mir schwer, mich nicht mehr jeden Tag mit ihm austauschen zu können und von verschiedenen Erlebnissen meines Tages zu erzählen. Ich konnte immer seine Nummer wählen, wir hatten feste Zeiten, zu denen wir gesprochen haben – jeden Tag passiert es mir, dass ich denke "ach, jetzt rufe ich Papa schnell an" und dann realisiere, dass es nicht mehr möglich ist. Aber so ist das Leben und ich erinnere mich an die vielen schönen gemeinsamen Momente und all das, was mein Vater mir mitgegeben hat. Umso wertvoller ist es, dass er ein Teil dieses für mich so wichtigen Buches ist.
Was ist der wichtigste Rat, den Ihr Vater Ihnen je auf den Weg gegeben hat?
Kretschmer: Er hat mir beigebracht, dass alles möglich ist in diesem Leben, dass man immer mit allem rechnen muss und nicht erschrocken sein sollte über das, was manche Menschen eben auch immer wieder zum Besten geben. Und dass man nicht erschüttert ist, von dem, was man nicht erwartet. Außerdem, dass man immer anständig durchs Leben gehen und sein eigenes Regulativ ist. Mein Vater hat oft Adenauer zitiert, indem er sagte: Nehmen Sie die Menschen wie sie sind, andere gibt's nicht. Das ist ein sehr weiser Spruch, den ich mir oft zu Herzen nehme und verinnerlicht habe.
Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an Ihre Eltern, Ihren Frank, Ihre Freunde, aber auch die Menschen im Allgemeinen, an die „wunderbaren Begegnungen“, die Sie erfahren durften. Werden Sie sich nun öfter freie Tage gönnen, um weiter solche Erfahrungen sammeln zu können?
Kretschmer: Das ist eine schöne Idee (lacht). Ich habe über diesen einen Tag geschrieben, an dem ich wirklich viel erlebt habe, aber denke nicht, dass es reproduzierbar ist und diese Begegnungen sind natürlich Teil meines alltäglichen Lebens – dafür muss ich mir nicht extra freinehmen. Sobald ich auf Menschen treffe, erzählen sie mir viele, viele private Geschichten. Das ist ein Teil von mir und meinem Alltag. Darüber könnte man sicher noch fünf weitere Bücher schreiben (lacht).
Vielleicht werden Sie nun noch öfter auf der Straße angesprochen als bisher, um in einer potenziellen Fortsetzung zu landen …?
Kretschmer: Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht. Vielleicht wird es passieren. Ich bin offen für alles und kann jedem nur sagen: Wer wagt, wird belohnt (lacht).
Wie sollte man Sie aber auf keinen Fall in der Öffentlichkeit ansprechen?
Kretschmer: Ich kann mich sehr gut umarmen lassen und Nähe, auch körperliche, zu Menschen aufbauen. Was ich allerdings gar nicht mag, ist, wenn man mich im Nacken anfasst. Da bin ich sehr empfindlich. Mich hat einmal eine Frau gefragt, ob sie mal an meinem Nacken lecken könnte, weil sie das bei ihrem Mann so gerne macht. Da habe ich dankend abgelehnt (lacht).
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