Reinhold Beckmanns erschütternde Familiengeschichte
Berlin – „Wann fliegt der Schwindel hier eigentlich auf?“ – Dieser Satz zieht sich wie ein roter Faden durch die Korrespondenz des Soldaten Franz Haber. Mit dem Schwindel meint er Hitlers Russlandfeldzug, der zu Hause als gerechter Kampf gegen den Bolschewismus heroisiert wird, tatsächlich aber ein blutiger Vernichtungskrieg ist.
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Franz Haber ist einer von Millionen deutschen Soldaten an der Ostfront, er macht den Russlandfeldzug von Anfang bis Ende durch. Als der Krieg schon fast vorbei ist und er sich nichts sehnlicher wünscht, als zu seiner Frau zurückzukehren, fällt er im damaligen Ostpreußen. Bis heute hat er kein Grab.
Franz Haber ist der Onkel des Sportjournalisten, Moderators und Musikers
Katholizismus auf dem Lande
Natürlich treibt den Sohn – wie auch die Leser – die Frage um: Wie ist es möglich, mit einem solchen Leid, dem Tod von vier geliebten Brüdern, weiterzuleben? Der Sohn, immer voller Respekt für die Mutter, sieht in ihrem Glauben, einem leidenschaftlichen Katholizismus, den Halt, der sie durchs Leben trug: „Sie zweifelt nicht, weil sie glaubt. Darum habe ich sie immer beneidet.“ Er räumt aber auch ein, mit diesem für ihn manchmal zu unkritischen Vertrauen in die katholische Kirche immer wieder gehadert zu haben.
Im ersten Teil des Buchs entwickelt Beckmann ein sehr eindrückliches Panorama einer von der katholischen Kirche geprägten ländlichen Welt, die in Wellingholzhausen bei Osnabrück die vermeintlich so wilden 20er Jahre bestimmt, bis auch hier der Nationalsozialismus langsam an Boden gewinnt, wenn auch nie vollständig. Neben der Kirche prägen Armut und frühe Todesfälle das Leben der Schusterfamilie Haber. Aennes Mutter stirbt bald nach ihrer Geburt und wird durch eine ebenso tüchtige wie strenge Stiefmutter ersetzt. Der Vater stirbt wenige Jahre später infolge eines nie auskurierten Kriegsleidens. Bald gibt es auch einen Stiefvater.
Gerade diese komplizierten, wenig herzlichen Verhältnisse schweißen die Geschwister fest zusammen – bis der Krieg sie trennt. In den Briefen der drei Soldaten zeichnen sich die unterschiedlichen Haltungen und Temperamente der Brüder ab. Ein überzeugter Nazi ist keiner von ihnen. Doch Hans, der Zweitälteste, sieht in seiner Karriere als Unteroffizier eine Möglichkeit des sozialen Aufstiegs. Er wird später als erster der Brüder im September 1942 kurz vor Moskau sterben. Alfons, der Womanizer, vergisst selbst im schlimmsten Elend nicht, sich bei seiner Schwester nach dem Befinden seiner diversen Flirts in der Heimat zu erkundigen. Er bleibt bei Stalingrad vermisst.
Entwaffenende Offenheit
Doch der nachdenklichste und mutigste der Brüder ist zweifellos Franz, für den sein Neffe genau deshalb eine besondere Vorliebe hat. Seine Briefe sind von entwaffnender Offenheit: „Habe die Nase gestrichen voll“, „Hoffentlich hat es bald ein Ende“, schreibt Franz trotz der Zensur und schildert ungeschminkt das brutale Soldatenleben. Auf seinem letzten Heimaturlaub hätte er die Chance unterzutauchen. Er weigert sich und läuft ins Verderben.
Beckmann erzählt all das in einer klaren Sprache, verständnisvoll, aber nicht sentimental. Die historischen Hintergründe bindet er geschickt mit ein, so weit sie notwendig sind. Nur einmal begeht er einen Fauxpas. Als Beispiel für die Leiden der Bevölkerung im belagerten Leningrad schildert er ausgerechnet ausführlich das Schicksal der Familie Putins. Hätte es da nicht weniger verfängliche Beispiele gegeben?
– Reinhold Beckmann: Aenne und ihre Brüder. Die Geschichte meiner Mutter, Propyläen Verlag, Berlin, 352 S., 26,00 Euro, ISBN 978-3-549- 10056-1. © dpa
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