Am Montag ist das Musiktheater an der Wien als letztes der drei gro\u00dfen Opernh\u00e4user der Hauptstadt in die neue Saison aufgebrochen – und das nicht mit einem der Schlager des Kernrepertoires, sondern mit Gaetano Donizettis Grand Op\u00e9ra „Les Martyrs“. Am Ende schlug dem frisch in See gestochenen Operntanker ein heftiger Buhorkan entgegen – zumindest dem polnischen Regisseur Cezary Tomaszewski. Der verfilzt sich bei dem Versuch, das St\u00fcck zweifach gegen den Strich zu b\u00fcrsten.<\/p>\n
Dabei w\u00e4hlt der 47-j\u00e4hrige Pole den v\u00f6llig schl\u00fcssigen Ansatz, die Geschichte des von Donizetti 1840 zur Urauff\u00fchrung gebrachten St\u00fccks in eine andere Welt zu transponieren. Die Thematik der Christenverfolgung im Armenien der Sp\u00e4tantike samt M\u00e4rtyrertod der beiden Hauptcharaktere ist mit best\u00e4ndiger Lobpreisung des Christen-Gottes und glaubensunterf\u00fctterter Todessehnsucht im Jahr 2023 schlichtweg nicht mehr textnahe darstellbar. Man ist versucht, der Zensur in Neapel von einst Recht zu geben, die das St\u00fcck in der italienischen Urfassung mit der Begr\u00fcndung untersagt hatte, dass das M\u00e4rtyrertum kein Stoff f\u00fcr eine Oper ist.<\/p>\n
Tomaszewski versetzt den theologischen Schmachtfetzen in eine ganze eigene Welt der fragmentierten K\u00f6rperfigurinen, die in ein der Reeperbahn w\u00fcrdiges Rotlicht getaucht ist. Die Menschen sind in ihrer K\u00f6rperlichkeit deformiert, mit Zusatzarmen ausgestattet, tragen groteske M\u00fcnder im Gesicht oder \u00fcberdimensionale H\u00e4nde. Das Ganze changiert zwischen Figuren der Commedia dell’arte, Oskar Schlemmers „Triadischem Ballett“ und einem moldauischen ESC-Beitrag. Es ist eine futuristische wie amorphe Welt, in der eine queere Camp\u00e4sthetik vorherrscht, welche die versuchte Dominanz der Macht \u00fcber den K\u00f6rper ins Zentrum r\u00fcckt. So wird auch das bei der Grand Op\u00e9ra obligatorische Ballett zur poshen, stimmigen Tanzeinlage durch sechs gest\u00e4hlte T\u00e4nzer.<\/p>\n
Diesen in sich schl\u00fcssigen Kosmos konterkariert die Regie allerdings durch ein weiteres Subthema: Den Genozid an den Armeniern durch das Osmanische Reich 1915. Auch dieser Interpretationsstrang h\u00e4tte in sich seine Berichtigung, zumal Donizetti das St\u00fcck ja in Armenien ansiedelt. Die thematische Doppelhelix aus V\u00f6lkermord und Barbapapa-\u00c4sthetik verheddert sich jedoch gewaltig. Zu diametral entgegengesetzt sind die beiden Str\u00e4nge. Schade, zumal Tomaszewski durchaus schl\u00fcssige Rauml\u00f6sungen gelingen. So dient ein zentrales Rondell im B\u00fchnenmittelpunkt als Spielfl\u00e4che f\u00fcr kommentierende Szenen, w\u00e4hrend die S\u00e4ngerinnen und S\u00e4nger der schweren Belcanto-Partien stimmschonend an der Rampe agieren k\u00f6nnen.<\/p>\n
Dabei sticht im mehrfachen Wortsinne Roberta Mantegna als Pauline heraus. Die italienische Sopranistin ist zwar bisweilen etwas scharf in der H\u00f6he, setzt als Frau zwischen zwei M\u00e4nnern jedoch elegante, sichere Melismen. Weshalb sie sich dabei f\u00fcr den entr\u00fcckten Christen Polyeucte im \u00fcberdimensionalen Kleidchen entscheidet und nicht den r\u00f6mischen Hunk S\u00e9v\u00e8re vom nicht nur stimmgewaltigen Mattia Olivieri nimmt, bleibt ein R\u00e4tsel des Librettos. Immerhin darf der von US-Tenor John Osborn in bester Belcanto-Tradition samt flie\u00dfender H\u00f6he gespielte Polyeucte in Richtung des Hohen C entschweben. Das von J\u00e9r\u00e9mie Rhorer durch den Abend gef\u00fchrte RSO rundet den guten musikalischen Eindruck des Abends ab – im Graben wird anders als auf der B\u00fchne nicht zu viel auf einmal gewollt.<\/p>\n
(S E R V I C E – Gaetano Donizettis „Les Martyrs“ im Musiktheater an der Wien im MQ, Museumsplatz 1, 1070 Wien. Musikalische Leitung des RSO: J\u00e9r\u00e9mie Rhorer, Inszenierung: Cezary Tomaszewski, B\u00fchne\/Kost\u00fcm: Aleksandra Wasilkowska, Licht: J\u0119drzej J\u0119cikowski. Mit Pauline – Roberta Mantegna, Polyeucte – John Osborn, S\u00e9v\u00e8re – Mattia Olivieri, F\u00e9lix – David Steffens, Callisth\u00e8nes – Nicol\u00f2 Donini, N\u00e9arque – Patrick Kabongo, Une Femme – Kaitrin Cunningham, Un Chr\u00e9tien – Carl Kachouh. Weitere Auff\u00fchrungen am 20., 23., 25. und 28. September. )<\/p>\n
(APA)<\/p>\n